Europa nach den Wahlen - Historische Parlamentswahl in Estland

Mit 37 der 101 Sitze im Parlament hat die liberale Reformpartei mit MP Kaja Kallas das beste Ergebnis erzielt, das eine estnische Partei je in einer Wahl erreicht hat, sagte Joosep Värk, Öffentlicher Rundfunk Estland, der die Ergebnisse am 6. März in der Hessischen Landesvertretung analysiert hat.

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Zu der Veranstaltung „Estland hat gewählt“ in der Reihe „Europa nach den Wahlen“ hatte Europaministerin Lucia Puttrich eingeladen.

Präsentation der Wahlergebnisse

Am 5. März hat Estland ein neues Parlament gewählt. Die liberale „Reformpartei“ von Kaja Kallas, die einen harten Kurs gegen Russland fährt, gewann mit 31,2 Prozent (2019/28,9%) der Stimmen die Wahlen. Der größte „Gewinner“ der Wahlen sei dennoch die liberale „ESTI 200“ Partei mit 13,3 Prozent, erklärte Joosep Värk. Diese war in der Wahl 2019 mit 4,4 Prozent noch an der „Fünf-Prozent-Hürde“ gescheitert, führte EU-Korrespondent Värk weiter aus. Der größte „Verlierer“ sei hingegen die Mitte-links „Zentrumspartei“ (K), die traditionell von der russischen Minderheit gewählt wird, mit Verlusten von mehr als acht Prozent (2019/23,1%). Auch die rechtsextreme „Estnische Konservative Volkspartei“ (EKRE), habe mit 16,1 Prozent (2019/17,8%) Stimmen verloren, komme jedoch auf Platz zwei und ist nun die größte Oppositions-Partei im Parlament. Im Vergleich zu den Wahlen 2019 habe die Wahlbeteiligung mit 63,5 Prozent deutlich zugenommen und mehr als die Hälfte der Stimmen sei online abgegeben worden. Das niedrige Ergebnis der EKRE habe Folgen gehabt. Der Parteivorsitzende der EKRE habe bereits nach der Wahl bekanntgegeben, dass seine Partei das Ergebnis wegen Wahlbetrugs beim e-voting anfechten werde. Während vor der Auszählung der elektronischen Stimmen die rechtsextreme EKRE noch in Führung lag, führte im Endergebnis die Reformpartei mit Abstand bei den elektronisch abgegebenen Stimmen. Und das sei laut EKRE nicht nachzuvollziehen.

Europa nach den Wahlen - Historische Parlamentswahl in Estland
Die liberale Reformpartei mit Kaja Kallas ist Wahlsieger

Joosep Värk im Gespräch mit Moritz Koch vom Handelsblatt

Der Wahlkampf sei nicht von Desinformationskampagnen oder Einmischungen von russischer Seite gekennzeichnet gewesen, meinte Värk. Solche Kampagnen seien nur schwer möglich, da die estnische Sprache sehr schwierig und nicht weit verbreitet ist. Insofern komme der sprachlichen Barriere eine schützende Wirkung zu, resümierte er. Die beiden großen Themen im Wahlkampf waren die nationale Sicherheit und Fragen der sozialen Sicherheit bei sehr hoher Inflation, hob Värk hervor. Im Gegensatz zur EKRE-Partei, die sich gegen eine Fortsetzung von Waffenlieferungen für die Ukraine stellt, sei Ministerpräsidentin Kallas eine starke Befürworterin. Kallas hat bereits angekündigt, dass sie die Verteidigungsausgaben auf über drei Prozent des BIP aufstocken will. Bislang gebe Estland mehr als ein Prozent des BIP für Ukraine-Hilfen aus, deutlich mehr im Vergleich zu den Volkswirtschaften in allen anderen EU-Mitgliedstaaten. Wichtigstes Anliegen der Bürgerinnen und Bürger sei die Sicherheit vor einer russischen Invasion, erklärte Värk im Gespräch mit Moritz Koch vom Handelsblatt.

Auf die Frage, wie eine neue Regierungsbildung aussehen könnte, antwortete Joosep Värk: Eine Koalition ohne die Beteiligung der Reformpartei sei rechnerisch nicht möglich. Und an Koalitionsmöglichkeiten mangele es Kallas nicht, da die liberalen Parteien in Zukunft 75 Prozent der Parlamentssitze innehaben. Möglich sei auch eine Fortführung der bestehenden Koalition mit den Sozialdemokraten (9,3%) und der konservativen Partei Isamaa (8,2%). Er sagte weiter, bislang habe Kaja Kallas wenig Zeit zur Umsetzung ihrer politischen Agenda gehabt, da sie stets Krisen bekämpfen musste. Die Wiederwahl könne sie in der Umsetzung ihrer Ziele stärken. Es werde auch gemunkelt, Kallas werde möglicherweise als Nachfolgerin von NATO-Generalsekretär Stoltenberg gehandelt. Joosep Värk schloss das zwar nicht aus, sah die Chancen jedoch nicht als hoch an.

Nachtrag 09.03.2023: Die Reformpartei hat bereits Gespräche mit den Sozialdemokraten und ESTI 200- Partei aufgenommen.